Da stehen sie, die ganzen Tassen im Schrank. An einer Stelle fehlt eine. Da stand ich mal eine ganze Weile. Zeigte mich immer von meiner besten Seite − den Sprung in meinem Porzellan immer gut versteckt und fühlte mich gut.
Manchmal wurde ich auserwählt und durfte den Schrank für einen kleinen Moment verlassen. Dann wurde ich von einer wohligen Wärme erfüllt, bekam eine intensive Körperpflege − inklusive Massage − und wurde dann wieder in den Schrank gestellt, um weiter zu glänzen.
Doch die Momente zwischen den kleinen Ausflügen wurden immer länger − vielleicht auch nur gefühlt. Neue Tassen, neue Konkurrenz kam dazu. Es gab Tage, da wurden eine oder gleich mehrere Tassen auserwählt und ich musste stehen bleiben. Ich wurde neidisch auf all die anderen Tassen. Ich war wütend und traurig. War ich nicht gut genug, hatten sie meinen Sprung gesehen, hatte ich an Glanz verloren, stand ich nicht gut genug da?
Die anderen Tassen machten sich darüber keine Gedanken. Manchmal fragte ich mich, ob sie überhaupt dachten. Konnten Tassen das überhaupt? Durften sie das? Sie redeten auch nicht viel, die anderen Tassen. Ich haderte mit mir, schämte mich, aber es war irgendwann klar: ich war anders als die anderen Tassen im Schrank.
Ich wagte den Sprung. Ich weiß nicht mehr, was mich dazu Trieb. Die Verzweiflung, die Abenteuerlust oder einfach nur die logische Konsequenz? Es ging ganz schnell. Ich war draußen, in einer neuen Welt. Am Anfang war ich wie im Rausch. So viele neue Eindrücke, so viel Freiheit, so viel Glück. Doch irgendwann holte mich die Realität ein.
Es ist nicht immer einfach in der freien Welt. Tassen sind eigentlich nicht fürs Laufen gemacht. Es kann immer passieren, dass mein Sprung noch größer wird oder ich komplett zerbreche. Keiner kann mich dann kitten und ich mich selbst auch nicht − eine Tasse hat keine Arme und auch keinen Kleber. Keiner erfüllt mich mit Wärme, Keiner wäscht mich, sorgt sich um mich. Keine anonyme Tassengemeinschaft, in die ich mich einfach mal zurückziehen kann.
Mir war schon damals irgendwie klar, dass ich nie mehr in den Schrank zurück kommen werde. Viel zu hoch. Ich meine, ich bin und bleibe eine Tasse und kein Vogel.
Trotzdem bereue ich keine Sekunde lang, dass ich damals gesprungen bin. Es gibt im Leben so viel mehr zu sehen, als nur den Ausblick aus dem Schrank. Es war die beste Entscheidung meines Lebens und ich möchte all die neuen Dinge, die ich gesehen und gelernt habe nicht missen. All die kleinen Glücksmomente, die Begegnungen, die Erkenntnisse über mich selbst. Ja selbst die vielen Krisen, gefährlichen Situationen, die ganzen Stunden der Traurigkeit und Einsamkeit, haben mich stark und glücklich gemacht. Ich bin immer noch die gleiche Tasse, mein Sprung ist sogar noch ein bisschen größer geworden und viele andere kleine Macken sind dazugekommen. Aber ich habe keine Angst mehr. Und mein Glück ist nicht mehr davon abhängig, ob ich aus dem Schrank geholt werde oder nicht.
Ich denke auch darüber nach, was mich erwartet hätte, wenn ich nicht gesprungen wäre. Man hätte mich vielleicht noch eine Weile stehen lassen im Schrank. Danach wären neue, schönere Tassen gekommen − ohne Sprung. Ein Tassenschrank ist kein Seniorenheim. Danach wäre ich entweder im Keller gelandet − bis zum nächsten Polterabend − oder direkt auf dem Müll. Aber ich weiß es nicht. Was wäre wenn? Wer kennt es nicht das Spiel. Ich bin es leid, es weiter zu spielen.
Manchmal laufe ich, mit großem Abstand, an meinem alten Tassenschrank vorbei. Aus der Ferne kann ich sehen, dass mein alter Platz schon lange wieder besetzt ist. Neue Tassen sind hinzugekommen. Wie schön sie da stehen, in Reih und Glied. Eine Gemeinschaft, die zusammengehört und weiß, wo sie steht. Im Schrank.