Kunst-Werk

Ich habe vor Kurzem einen sehr schönen Vergleich zweier Varianten gehört, wie Menschen ihr Leben gestalten und ihr ganz eigenes „Ich“ (wieder)finden.

Die einen Menschen sind klassische Maler. Sie entwickeln eine Vision, ein Bild von ihrer Zukunft und fangen zunächst auf einem weißen Untergrund an. Sie nehmen einen eckigen Keilrahmen, rühren künstlich Farben an und malen so lange weiter, bis das Bild perfekt ist. Manchmal malen sie auch einfach nur etwas ab oder kopieren es. Das Bild ist zweidimensional, an seinen Rändern begrenzt und kann nur von Vorne betrachtet werden. Dahinter findet man nichts als eine leere Leinwand.

Und dann gibt es die Bildhauer. Sie suchen als Grundlage zunächst ein von der Natur geformtes Objekt aus einem Material, das ihnen am meisten entspricht. Entsprechen der Maserung, der Grundform und der Festigkeit des Objekts, holen sie aus dem, was schon ist das Beste raus, indem sie nach und nach kleine Stücke wegschlagen. Schicht für Schicht von allen Seiten, von Oben und Unten. So lange, bis etwas freigelegt ist, das auch vorher schon irgendwie da war, aber nicht sichtbar. Und egal von welcher Seite man es am Ende betrachtet, man sieht immer etwas Neues, erhält eine neue Perspektive. Und doch bleibt es am Ende das Eine, Gesamte.

Kunst-Werk

Alle Tassen im Schrank

Da stehen sie, die ganzen Tassen im Schrank. An einer Stelle fehlt eine. Da stand ich mal eine ganze Weile. Zeigte mich immer von meiner besten Seite − den Sprung in meinem Porzellan immer gut versteckt und fühlte mich gut.

Manchmal wurde ich auserwählt und durfte den Schrank für einen kleinen Moment verlassen. Dann wurde ich von einer wohligen Wärme erfüllt, bekam eine intensive Körperpflege − inklusive Massage − und wurde dann wieder in den Schrank gestellt, um weiter zu glänzen.

Doch die Momente zwischen den kleinen Ausflügen wurden immer länger − vielleicht auch nur gefühlt. Neue Tassen, neue Konkurrenz kam dazu. Es gab Tage, da wurden eine oder gleich mehrere Tassen auserwählt und ich musste stehen bleiben. Ich wurde neidisch auf all die anderen Tassen. Ich war wütend und traurig. War ich nicht gut genug, hatten sie meinen Sprung gesehen, hatte ich an Glanz verloren, stand ich nicht gut genug da?

Die anderen Tassen machten sich darüber keine Gedanken. Manchmal fragte ich mich, ob sie überhaupt dachten. Konnten Tassen das überhaupt? Durften sie das? Sie redeten auch nicht viel, die anderen Tassen. Ich haderte mit mir, schämte mich, aber es war irgendwann klar: ich war anders als die anderen Tassen im Schrank.

Ich wagte den Sprung. Ich weiß nicht mehr, was mich dazu Trieb. Die Verzweiflung, die Abenteuerlust oder einfach nur die logische Konsequenz? Es ging ganz schnell. Ich war draußen, in einer neuen Welt. Am Anfang war ich wie im Rausch. So viele neue Eindrücke, so viel Freiheit, so viel Glück. Doch irgendwann holte mich die Realität ein.

Es ist nicht immer einfach in der freien Welt. Tassen sind eigentlich nicht fürs Laufen gemacht. Es kann immer passieren, dass mein Sprung noch größer wird oder ich komplett zerbreche. Keiner kann mich dann kitten und ich mich selbst auch nicht − eine Tasse hat keine Arme und auch keinen Kleber. Keiner erfüllt mich mit Wärme, Keiner wäscht mich, sorgt sich um mich. Keine anonyme Tassengemeinschaft, in die ich mich einfach mal zurückziehen kann.

Mir war schon damals irgendwie klar, dass ich nie mehr in den Schrank zurück kommen werde. Viel zu hoch. Ich meine, ich bin und bleibe eine Tasse und kein Vogel.

Trotzdem bereue ich keine Sekunde lang, dass ich damals gesprungen bin. Es gibt im Leben so viel mehr zu sehen, als nur den Ausblick aus dem Schrank. Es war die beste Entscheidung meines Lebens und ich möchte all die neuen Dinge, die ich gesehen und gelernt habe nicht missen. All die kleinen Glücksmomente, die Begegnungen, die Erkenntnisse über mich selbst. Ja selbst die vielen Krisen, gefährlichen Situationen, die ganzen Stunden der Traurigkeit und Einsamkeit, haben mich stark und glücklich gemacht. Ich bin immer noch die gleiche Tasse, mein Sprung ist sogar noch ein bisschen größer geworden und viele andere kleine Macken sind dazugekommen. Aber ich habe keine Angst mehr. Und mein Glück ist nicht mehr davon abhängig, ob ich aus dem Schrank geholt werde oder nicht.

Ich denke auch darüber nach, was mich erwartet hätte, wenn ich nicht gesprungen wäre. Man hätte mich vielleicht noch eine Weile stehen lassen im Schrank. Danach wären neue, schönere Tassen gekommen − ohne Sprung. Ein Tassenschrank ist kein Seniorenheim. Danach wäre ich entweder im Keller gelandet − bis zum nächsten Polterabend − oder direkt auf dem Müll. Aber ich weiß es nicht. Was wäre wenn? Wer kennt es nicht das Spiel. Ich bin es leid, es weiter zu spielen.

Manchmal laufe ich, mit großem Abstand, an meinem alten Tassenschrank vorbei. Aus der Ferne kann ich sehen, dass mein alter Platz schon lange wieder besetzt ist. Neue Tassen sind hinzugekommen. Wie schön sie da stehen, in Reih und Glied. Eine Gemeinschaft, die zusammengehört und weiß, wo sie steht. Im Schrank.

Alle Tassen im Schrank

Wartezeit

Worauf warten wir eigentlich die ganze Zeit? Auf besseres Wetter, auf den Feierabend, auf die nächste Bahn, auf die Liebe unseres Lebens, auf Antworten zu unsere Fragen, auf den nächsten Bus, auf fünf Kilo weniger, auf den nächsten Sommer − oder den nächsten Winter, auf das neueste Smartphone, auf eine passende Gelegenheit, auf ein besseres Angebot, auf bessere Laune, auf einen Geistesblitz, auf den Sechser im Lotto, auf die Pizza aus dem Ofen, auf den richtigen Moment? Darauf, dass sich irgendetwas ändert und wir endlich glücklich sein können?

„Sehr geehrte Damen und Herren. Wegen Störungen in den Gedankengängen, verzögert sich unsere Ankunft um einige Jahrzehnte.“

Wartezeit

5 Sterne Ende

Vor ein paar Tagen war ich mit meinen Eltern am Grab meiner Großeltern bzw. an unserer Familiengruft. Es ist tatsächlich so, dass dort neben meinen Großeltern und einem bereits verstorbenen Onkel, noch vier weitere Plätze reserviert sind: zwei für Tante und Onkel und zwei für meine Eltern. Vor zwei Jahren wurde auch noch mal jede Menge Geld in die optische Verschönerung der Gruft investiert. Schwarzer Marmor sollte es sein. Und am Ende war mein Vater voller Stolz: „Das ise di Mecedes unta die Greba!“. Einen Mercedes im wahren Leben zu fahren und dann am Ende noch in einem die letzte Ruhe zu finden: für meinen Papa − klassischer Gastarbeiter der ersten Stunde − wohl das höchste der Gefühle.

Mich haben an diesem Tag allerdings ganz andere Gefühle überrascht. Auf dem kleinen schmalen Weg Richtung Friedhof − natürlich im Mercedes − wurde mir plötzlich klar, dass dies der letzte Weg sein wird, den meine Eltern eines Tages gehen werden. Und ich werde dabei sein. Beruhigend und beängstigend zugleich.

Schon seit Längerem beschäftige ich mich mit dem Tod, weil ich denke, dass es falsch ist diesem Thema aus dem Weg zu gehen. Vielmehr ist der Tod ein Teil unseres Lebens und ich habe auf meinen Reisen, in vielen verschiedenen Kulturen erfahren, wie selbstverständlich der Tod im Alltag und Leben der Menschen dort verhaftet ist. Und genau dieser natürliche Umgang nimmt dem Tod seinen Schrecken und den Menschen die Angst davor. Natürlich bleibt die Traurigkeit über den Verlust eines geliebten Menschen, aber der Tod und das Sterben beschränken nicht bereits zu Lebzeiten das eigene Handeln und Sein.

Auch mit meinen Eltern habe ich an diesem Tag meine Gefühle geteilt. Und während unserem Gespräch habe ich gemerkt, dass es für sie sehr beruhigend ist zu wissen, wo sie einmal sein werden und wie es dort aussieht. Dort haben sie einen schönen ruhigen Platz nebeneinander, umgeben von Weinbergen und weiten Wiesenfeldern. Kein schlechter Platz, um auch mal länger in einem Mercedes liegen zu bleiben.

5 Sterne Ende

Blindes Vertrauen

Manchmal mache ich die Augen zu. Als ob ich blind wäre. Um noch besser zuzuhören, noch besser zu fühlen. Ohne Ablenkung, ohne Nachdenken. Ich versuche so lange ich kann mit geschlossenen Augen geradeaus zu laufen und die verschiedenen Geräusche einzufangen. Versuche zu riechen, ob wir noch Sommer haben oder ob der Herbst schon um die Ecke wartet. Ich spüre den warmen Boden unter meinen Füßen, die Sonne auf meiner Nasenspitze und meine Hände fangen winzig kleine Windfäden ein.

Irgendwo, wo es ganz ruhig scheint, bleibe ich stehen. Öffne meine Augen und sehe nur das, was direkt vor meiner Nase ist. Ohne Ablenkung, ohne Nachdenken. Ohne Vergangenheit. Ohne Zukunft. Nur das Jetzt. Nur die kleine heile Welt dieses winzigen Moments.

Blindes Vertrauen